Abschlussarbeiten "Institut für Literatur Johannes R. Becher“

ca. 25.000 Seiten
Beschreibungen

Der Bestand zum Becher-Institut enthält 474 theoretische und literarische Abschlussarbeiten von 264 Absolventen des Direktstudiums aus den Jahren 1955-1993 (ca. 25.000 Seiten). Alle Dokumente sind im Besitz der Universitätsbibliothek Leipzig und können im Rahmen einer Einzelplatzlösung auf Anfrage eingesehen werden. Ansprechpartner war zuletzt Prof. Dr. Thomas Fuchs. Teile des Bestands sind zudem online verfügbar im Portal sachsen.digital. Die aufgefundenen Abschlussarbeiten überschneiden sich teilweise mit den Beständen des Sächsischen Staatsarchivs (Staatsarchiv Leipzig), beinhalten aber auch viele neue Dokumente.

Abschlussarbeiten des Instituts für Literatur Johannes R. Becher

Zwischen 1955 und 1993 war das Institut für Literatur „Johannes R. Becher” die einzige Ausbildungsstätte für Autoren in der DDR und im gesamten deutschsprachigen Raum. Hier sollten Autoren ausgebildet werden, die den Idealen des Sozialismus verbunden sein sollten. Im Direkt- und Fernstudium sowie in Sonderkursen absolvierten im Lauf der Jahre ungefähr eintausend Autorinnen und Autoren ihr Studium. Unter ihnen befanden sich zahlreiche heute vergessene Absolventen, aber auch viele namhafte Schriftsteller: Erich Loest, Ulrich Plenzdorf, Werner Bräunig, Sarah Kirsch, Thomas Rosenlöcher, Angela Krauß, Barbara Köhler, Katja Lange-Müller, Kurt Drawert und Ronald M. Schernikau.

Am Becher-Institut, das von der Staatssicherheit der DDR überwacht wurde, befanden sich nicht ausschließlich systemkonforme Studenten. Seine Absolventen rekrutierten sich jedoch zum großen Teil aus sozialistisch geprägten Schreibgruppen, Arbeiterzirkeln und anderen Kontexten der Kulturförderung in der DDR. Einige Studierende wurden exmatrikuliert ‒ so etwa Autoren wie Adolf Endler, Andreas Reimann, Gert Neumann oder Helga M. Novak.

Zum Abschluss des Studiums wurde von jedem Absolventen eine theoretische sowie eine literarische Abschlussarbeit eingefordert. Der vorliegende Bestand enthält 474 Abschlussarbeiten von 264 Absolventen des Direktstudiums. Dass der Bestand nur eine kleine Anzahl von Materialien enthält, ist auf eine Eigenheit zurückzuführen: Als der Sächsische Staat das Becher-Institut abwickelte und die Gründung eines demokratisch-marktwirtschaftlichen Instituts anregte, wurden sämtliche Dokumente und Materialien der Institution dem Sächsischen Staatsarchiv (Staatsarchiv Leipzig) übergeben. Dort sind die Dokumente zu Lehrbetrieb, Kulturpolitik und die Arbeiten der Absolventen des Fernstudiums, des Direktstudiums sowie der Sonderkurse archiviert. Viele der 474 Abschlussarbeiten des aktuellen Bestandes fanden jedoch keinen Weg ins Archiv, sondern waren in den Räumlichkeiten des Deutschen Literaturinstituts Leipzigs eingelagert, wo man sie nach einem Wasserschaden im Keller zufällig entdeckte.

Die aufgefundenen Abschlussarbeiten überschneiden sich teilweise mit den Beständen des Sächsischen Staatsarchivs (Staatsarchiv Leipzig), beinhalten aber auch viele neue Dokumente. Der für die DDR-Geschichtsforschung, die Literaturwissenschaft und die Sächsische Geschichtsforschung überaus interessante Bestand wurde bisher Gegenstand zweier Forschungsprojekte.

Das erste Projekt „Das Institut für Literatur „Johannes R. Becher“ (1955-1993). Literarische Schreibprozesse im Spannungsfeld von kulturpolitischer Vereinnahmung, pädagogischem Experimentieren und poetischem Eigensinn” wurde zunächst durch das das Sächsische Ministerium für Wissenschaft und Kunst (SMWK) und von 2015 bis 2017 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert. Das Projekt wurde von Prof. Dr. Hans Ulrich Treichel unter Mitarbeit von Dr. Isabelle Lehn, Sascha Macht und Dr. Katja Stopka an der Universität Leipzig (Deutsches Literaturinstitut Leipzig) durchgeführt. Es zielte auf eine kultur- und literaturwissenschaftliche Aufarbeitung der fast vierzigjährigen Geschichte des Instituts für Literatur „Johannes R. Becher“ in Leipzig mit Blick auf die ästhetischen, schreibdidaktischen und kulturpolitischen Dimensionen, die Einfluss auf die Schreibprozesse und literarischen Werdegänge zahlreicher DDR-Autoren nahmen. Die Ergebnisse des Forschungsprojekts liegen seit 2019 in der viel beachteten Monografie „Schreiben lernen im Sozialismus” von Isabelle Lehn, Sascha Macht und Katja Stopka vor.

Das zweite Projekt „Das Textarchiv des "Instituts für Literatur 'Johannes R. Becher'" 1955-1993” wurde von Prof. Dr. Hans Ulrich Treichel initiiert und von Dr. Sebastian Weirauch an der Universität Leipzig (Deutsches Literaturinstitut Leipzig) zwischen 2018 und 2020 durchgeführt. Die Ziele des Projekts umfassten eine literaturwissenschaftliche Bestandsanalyse, die Vorbereitung einer Publikation ausgewählter Dokumente und Materialien sowie die Vervollständigung und archivarische Sicherung des Textkorpus'. Partner für das Projekt waren die SLUB Dresden und der durch die SAW ins Leben gerufene Verbund "Virtuelle Archive für die geisteswissenschaftliche Forschung". Ergebnisse des Projektes liegen sowohl in Gestalt der Auswahlanthologie „Experimentierfeld Schreibschule: Texte aus dem Literaturinstitut der DDR 'Johannes R. Becher' 1955-1993” vor, als auch in Form einer online zugänglichen digitalen Edition im Portal sachsen.digital.

Für den Kontext der Wismut-Erbe-Forschung ist der Bestand hinsichtlich zweier Aspekte von Interesse. Zum einen finden sich unter den Institutsabsolventen Autoren, die für die SDAG Wismut tätig waren und dies in ihren Abschlussarbeiten teilweise auch thematisieren (1). Hierzu gehören Horst Salomon, Werner Bräunig, Martin Viertel, Erich Köhler und Jürgen Frühauf. Zum anderen werden Montandiskurse um die Wismut und den Bergbau in der DDR auch von Autoren thematisiert, die wie Angela Krauß, Gundula Sell oder Annerose Kirchner nicht selbst für die Wismut tätig waren und nicht immer einen biografischen Bezug zum Themenkomplex unterhielten (2). Im Folgenden werden die theoretischen und literarischen Abschlussarbeiten der genannten Absolventen kurz vorgestellt und in ihrer Bedeutung für den Kontext der Wismut-Forschung kommentiert.

(1) Abschlussarbeiten von Zeitzeugen und Angestellten der Wismut

Martin Viertel

Martin Viertel (1925-2005) studierte von 1956 bis 1959 am Becher-Institut und widmet sich in seiner theoretischen wie auch literarischen Abschlussarbeit den Themenkomplexen Wismut und Bergbau.

Viertels Abschlussarbeiten am Institut stellen Vorarbeiten seiner später verfassten Werke, vor allem des Romans „Sankt Urban“ dar. Die theoretisch-essayistische Abhandlung „Die Klassenverhältnisse im Schneeberger Silberbergbau des 15. Jahrhunderts und die Ursachen der Streikaufstände von 1496 und 1498“ (1959, 39 Seiten) zeigt das Interesse des Autors für den Erzbergbau. Er unternahm Recherchen in Archiven und befasste sich mit Chroniken vergangener Jahrhunderte. Das Ziel der Arbeit besteht darin, allzu idealistische Parallelisierungen des Bergbaualltags mit den verklärten Verhältnissen des 15. Jahrhunderts zu hinterfragen. Maßgeblich ist dabei die sog. erste Schneeberger Silberperiode von 1470-1498. Viertel nutzt im Text das sozialistisch geprägte Fachvokabular des dialektischen Materialismus und behauptet, der Feudalismus des 15. Jahrhunderts habe als frühe Form des Kapitalismus eine neue Phase des Klassenkampfes eingeläutet. Parallel dazu werden die Vorentwicklungen der Schneeberger Aufstände der Jahre 1496 und 1498 dargestellt, aber auch die Geschichte des Bergbaus im Erzgebirge. Viertels Rekonstruktion ist in politischer wie poetologischer Hinsicht interessegeleitet: Es wird der Aufbau einer Weltordnung nach 1945 gelobt, welche die Klassenunterschiede unter Anleitung der sowjetischen Freunde beseitigen soll. Zugleich wird aber auch eine „bonbonsüße Heimatliteratur” verworfen, welche die wahren Verhältnisse verklärt.

Viertels literarische Abschlussarbeit Vorarbeiten verschiedener Kapitel eines Romans über die SDAG Wismutkann als Prequel des 1968 erschienenen Romans Sankt Urban” (Verlag Neues Leben) gelten. Die Hauptpersonen Hartmut Kringel, Paul, der dicke Penselstein, Gerd und die 17-jährige Lucie, die immer ohnmächtig wird, kommen per Pferdefuhrwerk nach Heidelgrün, einem fiktiven Ort im Erzgebirge in der Nähe des Schwarzwassertals (Johanngeorgenstadt), um dort in einem Schacht der SDAG Wismut in der Uran-Förderung zu arbeiten. Hunger und wirtschaftliche Not treiben sie in der unmittelbaren Nachkriegszeit in körperlich schwere Arbeit und unter die Kontrolle der Vorarbeiter. Der Fördersteiger Bleier wird gegenüber Lucie sexuell übergriffig, wodurch es zu einer Schlägerei kommt, bei der sich einer der Arbeiter (Gerd) für das Mädchen einsetzt. Zwischen Gerd und Lucie bahnt sich nun eine Liebesgeschichte an, es gibt Konflikte zwischen deutschen und russischen Arbeitern, Soll-Pläne und eine Dorfbevölkerung, die nicht gut auf die Wismut-Arbeiter mit ihren Quartierscheinen zu sprechen ist. Schon die frühe Stufe des Stoffes zeigt, dass Martin Viertel die poetologischen Prämissen seiner theoretischen Arbeit weiterverfolgt. Der Roman wird im Sinn des Sozialistischen Realismus mit großer Kenntnis der Arbeitsverhältnisse im Bergbau erzählt. Mit starker, naturkräftiger Bildlichkeit wird im ersten Kapitel die wirtschaftliche Not der Menschen zu Beginn der 1950er Jahre beschrieben und in den folgenden Passagen die schwere Arbeit im Berg sowie die Konflikte zwischen den Arbeitern. Die Natur wird von Regen, von Erde und Lehm beherrscht, die Rede der Figuren von Grobschlächtigkeit. Der später erschienene Roman ist eine Fortsetzung. Ort und Schacht und Teile des Personals sind identisch, doch der Fokus liegt weniger im Beschreiben der harten Lebenswirklichkeit, als vielmehr in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Während das Eingangskapitel der Abschlussarbeit den Hunger der Arbeiter als Motivation nennt, wird im Roman Sankt Urban der Fortschritt, Schächte in den Berg treiben zu können, als Motivation genannt.

Horst Salomon

Horst Salomon (1929-1972) studierte von 1958 bis 1961 am Becher-Institut.

Salomons theoretische Abschlussarbeit Ein großer Dichter ist das Volk (1961, 80 Seiten) setzt sich mit volkstümlichen und märchenhaften Erzähltraditionen auseinander. Statt einer Kunst um der Kunst willen, die vom Volk nicht akzeptiert werde, wird das politische Kampflied zum Modell für Kunst. Während Dichter wie Johannes R. Becher oder Wladimir Wladimirowitsch Majakowski gelobt werden, gelten Salomon Autoren wie u.a. Peter Rühmkorf als dekadent. Seine polemische Arbeit gipfelt mit Schilderungen von Eindrücken zum V. Deutschen Schriftstellerkongress 1961 in Zwickau.

Bei der literarischen Abschlussarbeit „Vortrieb“ (1961, 77 Seiten) handelt es sich um ein Schauspiel in sechs Akten, das im Bergbaugebiet der SDAG-Wismut angesiedelt ist. Die Lehrerin Ruth ist mit dem Wismut-Kumpel Hannes verheiratet und leidet unter der Doppelbelastung von Arbeit und Haushalt, ihr Ex-Freund Tomek erscheint ihr sensibler. Auch bei Sylvia und Lindner läuft es nicht besonders gut. Unter Tage streiten die Männer unter sich, wie sich am besten der Förderertrag erhöhen lässt. Darunter leidet wiederum die Sicherheit im Schacht. Am Ende gehen die zwei Ehen zu Bruch. Einziger Ausblick: Ruth ist bereit, zu Hannes zurückzukehren, wenn dieser es schafft, sich zu ändern. Das Stück spielt in drei Szenarien: im Wohnzimmer, in der Kneipe und im Schacht. Diesen Welten sind auch die Sprachbestände entnommen: die emotionale Seite von Ehe und der Wunsch nach Familie; die schwere körperliche Arbeit unter Tage, die Fachsprache der Bergarbeitet und die Kneipe, mit dem schmalen Grad zwischen Geselligkeit, Entspannung und alkoholbedingt ausbrechenden Konflikten.

Erich Köhler

Erich Köhlers Abschlussarbeiten haben keinen direkten Bezug zu seiner Tätigkeit bei der Wismut. In ihrem Fokus steht vielmehr die Landwirtschaft der DDR und deren Umstrukturierung. Es wäre aber möglich, querschnittsartig nach Spuren zum Wismut-Kontext zu suchen, die womöglich auf subtilere Art und Weise in beide Texte eingeflossen sind.

Köhlers theoretische AbschlussarbeitDie Widerspiegelung der sozialistischen Bäuerin in der sozialistischen Literatur“ (1961, 34 Seiten) ist in drei Abschnitte gegliedert. Im ersten „Beispiele aus dem Leben“ porträtiert Köhler Bäuerinnen unterschiedlichen Alters, wobei deutlich wird, dass durch die Gründung der LPGs das Leben von älteren Bäuerinnen zumeist eine positive Wendung nahm und unter den jüngeren Bäuerinnen viele selbstbestimmte, emanzipierte Lebenshaltungen zu erkennen sind. Im zweiten Abschnitt diskutiert Köhler seine Fallbeispiele ästhetisch und ideologisch, um zu einem kritischen Maßstab bei der Beurteilung literarischer Darstellungen von sozialistischen Bäuerinnen zu gelangen. In Abgrenzung zu Aristoteles betont Köhler, dass die realistische Widerspiegelung der Bäuerin in der sozialistischen Literatur nicht Furcht und Schrecken, sondern Liebe und Hass erzeugen soll, um so den inneren Emanzipationsprozess sozialistischer Frauen voranzutreiben. Im dritten Abschnitt bespricht Köhler literarische Beispiele.

Köhlers literarische Abschlussarbeit „Schatzsucher“ (1960, 395 Seiten) erzählt umfänglich die Geschichte des Dorfes Langsbach vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg anhand typisierter Figuren. Im Zentrum stehen der ehemalige Eisenbahner, Bauer und Hobbymaler Heinrich Ramm und sein Sohn Erwin, der ein gelernter Melker ist. Beide, Vater und Sohn, sind überzeugte Kommunisten. Aber der Vater Ramm zerbricht innerlich an der Engstirnigkeit vieler Dorfbewohner und wird schließlich vom Kapitalisten Schulz heimtückisch ermordet. Kämpferischer ist sein Sohn Erwin. Als dieser verwundet aus dem Krieg zurückkehrt und als körperlich Behinderter vom Kriegsdienst ausgeschlossen wird, versucht er, eine kommunistische Untergrundorganisation zu gründen. Doch er wird verraten. Der Erzählfokus wechselt zwischen den Perspektiven verschiedener Personen und Zeiten. Dabei widmet sich die Sprache ausführlich den Gedanken und Gefühlen jeder einzelnen Figur. Selbst die unsympathische Figur Schulz wird auf diese Weise zur Identifikationsfigur. Das Begräbnis des Heinrich Ramm wird in einer abschließenden Passage geschildert.

Werner Bräunig

Von Werner Bräunig liegt im Archiv eine theoretische Abschlussarbeit vor, seine literarische Abschlussarbeit „Weil dich das Leben braucht. Fernsehspiel” ist nicht überliefert, jedoch wurde sie seinerzeit in der Zeitschrift ndl veröffentlicht.

Bei der theoretischen Abschlussarbeit „Probleme des lyrischen Bildes im sozialistischen Realismus” bildet der Ausgangspunkt eine Polemik des Autors sowohl gegen westdeutsche wie auch gegen ostdeutsche Sprachmanierismen. Bräunig eröffnet einen sprachkritisch ambitionierten Diskurs, in dem allerdings wenig abgewägt oder argumentiert wird. Im Zuge seiner Studie versucht er vielmehr zu einer angemessenen Verwendung des literarischen Bildes zu gelangen und untersucht klassische, romantische und moderne Zugänge zum Bildhaften in der Literatur. Angemessenheit versteht Bräunig dabei als Vereinbarkeit mit dem Sozialistischen Realismus, dessen herausragende Merkmale für ihn Verständlichkeit, Volkstümlichkeit und Einfachheit bilden. Zwei Exemplare von Bräunigs Text liegen vor. Eines davon enthält handschriftliche Vorarbeiten sowie eine maschinengeschriebene (unvollständige) erste Fassung des Aufsatzes. Sie hat den Titel „Verteidigung des Einfachen“ und ist viel breiter angelegt. Nicht zuletzt das mit Streichungen versehene Inhaltsverzeichnis lässt den Einfluss einer kritischen Überarbeitung erkennen. Bei den handschriftlichen Notizen handelt es sich vordergründig um im Aufsatz verwendete oder damit in Zusammenhang stehende Abschriften von Zitaten. Begeisterung für die sozialistische Sache, Wahrheit, Reinheit und Einfachheit sind Kernbegriffe.

Jürgen Frühauf

Jürgen Frühauf (Geboren 1955) studierte am Becher-Institut von 1988 bis 1991. Wie in seinen biographischen Angaben dokumentiert ist, war er längere Zeit für die Wismut tätig. Dies hat auch seine literarischen Arbeiten entscheidend geprägt. Bereits während seiner Studienzeit wurde die Publikation Mit Adam und Eva am Stammtisch: poetische Protokolle” veröffentlicht, in der sich ebenfalls Texte zum Themenkomplex Bergbau befinden. Frühaufs Abschlussarbeiten am Becher-Institut umfassen die theoretisch-literaturkritische Arbeit Die Feder unter den Tisch werfen – zur neueren Landschaftslyrik Annerose Kirchners (1991, 15 Seiten) und die Mappe mit künstlerischen Arbeiten Neue Welt (1991, 62 Seiten).

In der literaturkritischen Arbeit behandelt Frühauf Annerose Kirchners Gedichtzyklus „Fotografierter Planet“ von 1988. Einzelne Naturgedichte werden Vers für Vers erläutert und in der Konsequenz als zu idyllisch kritisiert. Kritische Impulse in Kirchners Werk werden anerkannt, aber als „zu sehr gebaut und gestelzt“ verworfen. Auch an anderen Stellen werden polemisch Manierismen kritisiert, die aus Sicht des Autors in der Lyrik der Schriftstellerin zu finden sind: „Zuerst muss gesagt werden, daß in dieser Metapher wieder Annerose Kirchners Verlangen oder Sehnsucht nach einer Weltganzheit steckt. Sie mag den Morgenhimmel so empfunden haben, als sie im Schriftstellerheim erwachte, aus dem Fenster schaute. Aber, im Gedicht wirkt es romantisierend, aufgeblasen und überfrachtet, wie eine Lyrikkonstruktion aus dem Computer.“ Die Gedichte der Lyrikerin Wulf Kirsten werden kontrapunktisch als gelungen dargestellt. Kirchner wird attestiert, sie sei als Lyrikerin in eine „Sackgasse“ geraten.

Frühaufs künstlerische Mappe enthält Lyrik und Prosa. Seine Gedichte behandeln Alltagsthemen, wie Familie, Schule und Arbeit. Sie sind merklich an zeitgenössischen Strömungen (Lyrikszene um den Prenzlauer Berg) orientiert. Die ersten Texte geben Eindrücke aus der Kindheit und der 1970er-Jahre in der DDR wieder. Das titelgebende Gedicht „Neue Welt“ beschreibt die Übernahme eines Tanzsaales, den „schönsten Jugendstilsaal Europas“, durch „Lewisjeans“-tragende „Deep Purple Imitatoren“, wobei das lyrische Subjekt dieser „Langhaarkommune“ den „Jaggerfreaks“ selbst angehörte. Außerdem werden Trinkexzesse in der „Leipziger Kneipe Luisenhof“ geschildert und Szenen in Prag, Zakopane, Nowgorod. Ein ganzer Abschnitt besteht aus Liebesgedichten, die, in ironischem Ton und jede Innerlichkeit vermeidend, Zwischenmenschliches darstellen und den Friseurbesuch zur größeren Erotik erklären. Ein weiterer Abschnitt behandelt die Arbeit bei der Wismut. Schonungslos wird dabei auf den DDR-Alltag Bezug genommen („Leuten wuchern die Tumoren aus den Nasen“). Dabei wird nicht nur die Partei, sondern auch die so gennante Wende kritisiert: „das Land, das meins / im anderen ein anderes ist. / Halb hier, / halb dort, / nie ganz.“ – Unter dem Titel „Es geht ihm gut“ (13 Seiten) werden kurze Prosastücke zusammengefasst. Zeitlich wird der Leser hier von einem lakonischen Erzähler in die zweite Hälfte der 1970er Jahre geführt. Der Protagonist Rudi erlebt Szenen in der Familie und bei der Armee. Der Text „Die Mafia“ handelt von einem Arbeitsunfall und einigen Vorkommnissen in diesem Zusammenhang: Zum Beispiel veranlasst der Brigadeleiter das Verschwinden eines Krankenscheins. Auch werden Bücher frisiert und die betreffende Brigade wird schlussendlich Sieger bei einem Wettbewerb. In „Gerhard“ verliert ein Mann seine Frau, wird alkoholabhängig, verliert seinen Job und springt vom Dach. Zuletzt erfährt der Leser von seinem Aufenthalt in einer psychiatrischen Anstalt. Für die Betrachtung der Wismut besonders hervorzuheben sind das Gedicht „Unter den heißen Duschen“ sowie die Kurzerzählung „Radon“.

(2) Relevante Abschlussarbeiten weiterer Absolventen

Angela Krauß

Von 1976 bis 1979 studierte Krauß am Literaturinstitut Johannes R. Becher in Leipzig, wo sie seit 1981 als freie Schriftstellerin lebt.

Die theoretische und literarische Abschlussarbeit der Autorin hat keinen direkt nachweisbaren Wismut-Bezug. Einige nicht überlieferte Abschlussarbeiten wurden 1988 in dem Band „Glashaus“ veröffentlicht. Gerade aber Krauß’ literarische Abschlussarbeit bewegt sich in der Nähe des Erinnerungsraums Bergwerk und dies wird auch durch den späteren Wismut-Text der Autorin in „Der Dienst“ unterstrichen. In ihrem Essay „Von der Seeligkeit des Schreibens“ (1979, 11 Seiten) behandelt Krauß die Autorin Kathrin Mansfield. Im Prosatext „Was mir bestimmt ist“ (1976, 7 Seiten) wird der Werdegang einer gealterten Frau in Leipzig verhandelt, die sich an ihr Leben erinnert. „Frühschicht“ (1978, 9 Seiten) wiederum schildert den inneren Konflikt des Tagebauarbeiters Jargosch, der sich vom mythisch-symbolischen Element der Erde angezogen fühlt und zugleich die zerstörerische Kraft der Tagebaumaschinen bedauert. Jargosch musste mit seiner Familie im Lauf der Jahre mehrfach sein Zuhause aufgeben, um dem Tagebau Platz zu machen. Der Kurzprosatext nutzt die Mythologie des Erdreichs für poetische und erinnerungsphilosophische Exkurse. "Frühschicht" meint hier nicht nur die Sedimentierung von Erdschichten aus der naturgeschichtlichen Frühzeit, sondern Jargoschs Erinnerung an frühere Erlebnisse und deren Rolle für die Schichtungen seines Ichs.

Gundula Sell

Die Autorin Gundula Sell, die von 1985 bis 1988 am Institut studierte, war nicht im Wismut-Kontext tätig. Ähnlich wie bei Angela Krauß findet sich allerdings eine Bearbeitung des Sujets "Bergbau", das durchaus anschlussfähig ist an die Wismut verstanden als kollektiver Erinnerungsraum. Im Bestand finden sich von Sell die theoretisch-übersetzerische Arbeit „Gespräch über Mandelstam“ (1989, 28 Seiten) mit einer ausführlichen Einführung in die russische Strömung des Akmeismus. Unter den drei Gedichtsammlungen „Deutschland über beide Ohren“, „Stadtbilderklärungen“ und „Achtdreiviertel Stunden“, ist vor allem letztere hervorzuheben. Hier finden sich viele Gedichte aus Produktionsstätten, über Bergarbeiter und Teerofenheizer. Präzise Beschreibungen des Arbeitsalltags mit emotionaler Nähe zu den Personen sind eine Stärke der Texte. Aber auch selbstkritische Beschreibungen der Tätigkeit des Dichtens beim Praktikum in der Druckerei: „Schwarze Kunst am Vormittag. Laut Vertrag. / Die Halbtöne ahnt man noch nicht.“

Vor allem Sells Gedicht „Bergwerk im Kopf“ spielt mit der Überblendung prosaischer, bedrohlicher Wirklichkeiten mit imaginativen Einschüben aus dem Reich der Kunst. Mit dem Bergwerk behandelt Sell ein Sujet, das spätestens mit Hoffmanns „Bergwerken zu Falun“ oder durch Johann Peter Hebels „Unverhofftes Wiedersehen“ zu einem literarisch überaus einflussreichen geworden ist. Der Text beginnt mit einer Schilderung des in den Kohlebergbau einfahrenden lyrischen Ichs. Aufgerufen wird ein Gefühl der Gefahr, das mit der Angst einhergeht, nicht mehr an die Oberfläche zurückkehren zu können. Der Bergmann, so heißt es, trägt sein Trauerkleid jeden Tag und wo die Kohle schwarz auf mich wartet, auf ihr Urteil, / wie auf ein Unglück ich, / das nie geschehen darf, und eines Tages ist es da, /mich oder meinen Nachfolger zerschlägt“. Anders als durch die sozialistische Fortschrittsdoktrin gefordert markiert der Bergbau für das lyrische Ich eine ambivalente Erfahrung, der ein an Ovids ›eisernes Zeitalter‹ erinnerndes Moment der Hybris innewohnt: Wir veröden die Adern der Erde für unsere Feuer.

Wieder wird das Nebeneinander von Bedrohung und Alltag geschildert: Den Vormittag unserer Tage hier unten / dröhnt in unsern Köpfen zum Pressluftgehämmer Musik: / ›... Cowboy, der im Dunkeln reitet, ist kein Weg zu schmal ...‹ Das Heroische existiert als Zitat und als eher angloamerikanisch geprägte Hintergrundbeschallung und soll von der Gefahr ablenken. Bei der Kohle handelt es sich in einem Oxymoron um eine tote lebendigeMasse. Bereits in Hebels Unverhofftes Wiedersehenspielt die Vermischung von Organischem und Anorganischem eine zentrale Rolle. Die Kalendergeschichte geht zurück auf eine Anekdote, in welcher der Körper eines verunglückten Bergmanns durch die Substanz des Eisenvitriols über viele Jahre unversehrt blieb. Im Bild des Bergmanns wird das Vergehen der Zeit und ebenso ihre Stillstellung greifbar: und plötzlich fürchte ich, die Zeit / liefe nicht vorwärts, bräche ab, kehrte um, / die Kohle wüchse wieder vor in die Stollen, / die Stempel und Gleise und Bahnen verschwänden, / sie umwüchse mich mit ihrer toten lebendigen Masse, / dass ich erstarrte.“ Der Lauf der Zeit kehrt sich in seinem Bewusstsein um – die gefühlte Übermacht des Rohstoffs und seine ›untoten‹ Qualitäten holen es als Verdrängtes ein und begraben es unter sich. Es erstarrt nicht mehr nur vor Angst, sondern wird nun selbst Teil der dunklen Masse.

Annerose Kirchner

Kirchner studierte am Becher-Institut zwischen 1976 und 1979. Ihre Abschlussarbeiten weisen keinen Wismutbezug auf, werden aber summarisch angeführt, da die Autorin später zur Wismut publizierte.

Kirchners literarische Abschlussarbeit Mittagsstein teilt sich auf in die Abschnitte „Horizonte“, „Silhouetten“, „Hände“ und „Licht“. Der letzte Abschnitt ist der umfangreichste. Die Texte des genannten Abschnitts greifen diverse Themen auf: Liebe, Kindheit und Familie, NS-Terror, Vertreibung, lyrische Nacherzählungen von Gogols „Der Mantel“ oder von Shakespeares „King Lear“. Die Themen der übrigen Abschnitte lassen sich eindeutiger bestimmen: „Hände“ beschreibt typische Berufe, „Horizonte“ beschreitet Orte in der Provinz und Reisen und „Silhouetten“ nimmt Bezug auf Kunstwerke, Künstler und Wissenschaftler.

Kirchners theoretisch-essayistische Abschlussarbeit „Verwandlungen Bekenntnis zu Getrud Kolmarstellt eine Annäherung an die jüdische Lyrikerin Gertrud Kolmar dar. Kirchner beschreibt ihren persönlichen Bezug zu der Dichterin. Insbesondere durch das Thema des Frauseins und seine spezifische Behandlung fühle sie sich ihr verbunden. Schließlich werden teils erläuternd, teils literaturkritisch sondierend ausgewählte Gedichte besprochen.

Alle angeführten Texte stellen eine Überführung und Ergänzung der Datenbank des Forschungsprojekts "Das Institut für Literatur „Johannes R. Becher“ (1955-1993). Literarische Schreibprozesse im Spannungsfeld von kulturpolitischer Vereinnahmung, pädagogischem Experimentieren und poetischem Eigensinn" dar. 

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