Literaturwissenschaft

Forschungsstand und Zukunftsperspektiven

Die Wismut in der Literaturwissenschaft

Die genuin literaturwissenschaftliche Foschung zum Wismut-Erbe ist überschaubar. Sie bietet allerdings zahlreiche Anknüpfungspunkte für zukünftige fachspezifische, intermediale sowie interdisziplinäre Vorhaben u.a. aus den Feldern der Cultural Studies, der Sprachforschung sowie der Geschichts- und Naturwissenschaft. Im Folgenden wird der bisherige Forschungsstand mit der Akzentsetzung auf exemplarische Forschungsprojekte und Publikationen rekonstruiert (1). Im Anschluss an diese ausführliche Bestandsaufnahme werden zukünftige Forschungsperspektiven skizziert (2).

(1) Die Zusammenfassung des Forschungsstandes konzentriert sich ausschließlich auf die literaturwissenschaftlichen Publikationen und die literarischen Texte um die Wismut. Forschungsvorhaben, die sich mit der Wismut-Thematik überschneiden, diese aber nicht unmittelbar berühren, werden soweit möglich erfasst, allerdings nicht näher kommentiert (vgl. Sokoll 2020). Herausgestellt werden vier zentrale literaturwissenschaftliche Kontexte:

(A) Die literaturgeschichtlich akzentuierte Forschung zur Wismut.

(B) Die regionale Mundartdichtung bzw. die literarische Textproduktion jener der Wismut assoziierten Arbeiterzirkel.

(C) Die Gattungsdiskussion um die Brigardetagebücher und deren Abgleich mit literarischen Entwürfen.

(D) Die Einbettung der Literatur um die Wismut in romantische und avantgardistische Montandiskurse.

Das einzige Forschungsprojekt, in dem ein großer Teil der vier Kontexte abgedeckt wurde, war das von 2008 bis 2011 an der TU Chemnitz von Historikern und Literaturwissenschaftlern durchgeführte Vorhaben Geschichte der Wismut AG/SDAG und der Sanierung der ehemaligen Bergbaugebiete 1946 - 2010. Die gewonnenen Erkenntnisse wurden vom 23. bis 25. Juni 2011 an der TU Chemnitz auf der Fachtagung GESCHICHTE DES OSTDEUTSCHEN URANBERGBAUS. DIE WISMUT IM SOWJETISCHEN ATOMKOMPLEX: ERGEBNISSE EINES FORSCHUNGSPROJEKTS präsentiert. Sämtliche Vorträge der Sektion zur literaturwissenschaftlichen Perspektive fanden in Form von Aufsätzen Eingang in den 2012 von Wolfram Ette, Michael Ostheimer und Jörg Pottbecker herausgegebenen Sammelband Strahlungen. Literatur um die Wismut.

Im Vorwort von Strahlungen wird die für die Forschung wesentliche analytische Setzung einer Literatur um die Wismut” vorgenommen (Ette/Ostheimer/Pottbeckers 2012, S. 5). Damit wird betont, dass die betreffende Literatur nicht nur von Zeitzeugen und Beteiligten geprägt, sondern auch im Sinn eines Erinnerungsraumes von Autoren mit indirektem Wismut-Bezug fortgesetzt wurde (z.B. von Angela Krauß oder Lutz Seiler). Ein Konsens aller im Band versammelten Beiträge besteht in der Auffassung, dass die direkte literarische Abbildung des Uranbergbaus der Strahlkraft und der Randunschärfe des Phänomens kaum gerecht wird” (Ette/Ostheimer/Pottbeckers 2012, S. 5). Vielmehr überlagern sich Texte mit fiktionalem oder dokumentarischem Anspruch, Zeitzeugenberichte und literarische Erzeugnisse. Die Thematisierung der Wismut ist folglich keine Frage der Abbildung von Wirklichkeit, wie sie etwa der Sozialistische Realismus leisten wollte. Sie muss kritisch als Repräsentation komplexer Zusammenhänge gelesen werden, in die literarische Traditionen (z.B. die Romantik), ideologische Einflüsse (z.B. das Ideologem vom „Neuen Menschen”) wie auch regionale Traditionen (z.B. die erzgebirgische Mundartdichtung) mit eingeflossen sind. Die Herangehensweise der Beiträge im Band besteht folglich darin, einerseits die Bandbreite der Literatur um die Wismut aufzuzeigen und sie andererseits in den Kontext der Bergbauliteratur einzubetten” (Ette/Ostheimer/Pottbeckers 2012, S. 5). Aus dieser analytischen Perspektive werden in den Aufsätzen drei der wesentlichen Forschungskontexte (A, B, C) angerissen, die nun zusammengefasst und erläutert werden.

(A) Die literaturgeschichtlich akzentuierte Forschung zur Wismut

Eine grundlegende Betrachtung der literaturgeschichtlichen Bedeutung der Wismut (A) unternimmt Michael Ostheimers Beitrag Wismut-Literatur oder Von der Aufgabe der Heimat für den Weltfrieden, in dem die wichtigsten literarischen Texe um die Wismut angeführt werden; sowohl von Autoren, die wie Werner Bräunig, Erich Köhler, Horst Salomon oder Martin Viertel für die Wismut arbeiteten, als auch von solchen, die das Phänomen im weitesten Sinn einer Zeitzeugenschaft erlebten (Angela Krauß, Lutz Seiler) oder sich ihm ohne einen dokumentierbaren biografischen Bezug näherten (Josef Haslinger).

Zunächst wird auf die Literatur von Beteiligten und -Zeitzeugen eingegangen, in denen die Wismut unmittelbar oder am Rande thematisiert wird. Darunter Werner Bräunigs Rummelplatz”, sein Erzählband „In diesem Sommer” und der gemeinsam mit Horst Salomon verfasste Band „Für eine Minute. Agitationsverse”, in dem vor allem die Gedichte „Uran” und das „Lied der sozialistischen Wismutbrigarden” hervorgehoben werden (vgl. Bretschneider 1998; Chilese 2009). Auch Horst Salomons Drama Katzengold” wird genannt und hinsichtlich seiner Propagierung eines sozialistischen Menschenbildes bzw. des Konzeptes des „Neuen Menschen” behandelt. Ebenso wird Martin Viertels Roman „Sankt Urban” angeführt, von dem sich ein deutlich kritischeres Prequel unter den Abschlussarbeiten des Becher-Instituts befindet, wo Viertel zwischenzeitlich studierte (Vergleiche auch: Viertel 1986). Viertel schildert [...] wie kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Weltgeschichte in Gestalt der Sowejetmacht in die erzgebirgische Heimatidylle einbricht. Im Vordergrund stehen zum einen der alte Häuer und kommunistische Muster-Arbeiter Georg Bäumeling und der sowjetische Major Kargin, die beide den titelgebenden Schacht Sankt Urban wegen der dort vermuteten Uranvorkommen wiederzubeleben versuchen” (Ette/Ostheimer/Pottbeckers 2012, S. 20)Ostheimer arbeitet heraus, wie sich die verschiedenen literarischen Texte aus dem dem unmittelbaren Wismut-Umfeld der Thematik des Uran-Bergbaus im sozialistischen Kontext nähern.

Die literarischen Texte von Angela Krauß und Lutz Seiler greifen, so Ostheimer, auf die Wismut als kollektiven und individuellen Erinnerungsraum zurück. Krauß befasst sich mit dem Uranberbau im Erzgebirge in Kleine Landschaft” (1985), „Der Dienst” (1990) und in ihrer ersten Frankfurter Poetikvorlesung „Die Pultscholle” (2004) (vgl. Emmerich 2008; Geier 2005). In Kleine Landschaft fährt die 26-jährige Ich-Erzählerin mit dem Zug aus der ‚Stadt’ an den Ort ihrer ‚Kindheitssommer’. Den Blick beständig auf die ‚Industrielandschaft’ des ‚Vorerzgebirges’ gerichtet, erinnert sie sich an die Sommerferien, die sie als Kind bei ihrer Großmutter verbrachte. Dabei spielen die Aktivitäten der Wismut eine maßgebliche Rolle.” (Ette/Ostheimer/Pottbeckers 2012, S. 22). Ähnlich wie in „Die kleine Landschaft” gehen auch in „Der Dienst” Familiengeschichte, erzgebirgische Landschaft und Wismut-Betrieb eine unheimliche Verbindung ein: „Während am Schluss von Kleine Landschaft eine Todeslandschaft als Erinnerungsraum aufscheint, ist es am Ende von Der Dienst der von dem Vater der Ich-Erzählerin begangene Selbstmord, der das Gravitationszentrum der Erzählung ausmacht [...]. Zwischen dem schweigsamen Bergpolizisten der Wismut und seiner Tochter, für die der Vater nur außerhalb seiner Arbeit existiert, fungiert der Dienst als ‚leere Mitte’ der Erzählung [...]. In der ersten der Frankfurter Poetikvorlesungen verdeutlicht Angela Krauß, in welch hohem Maß der selbstgewählte Tod des Vaters ein Grunderlebnis dargestellt habe, das in ihr einen entscheidenden Schreibimpuls freisetzte [...]. Angela Krauß bringt auf den letzten Seiten von Der Dienst die Ostfronterfahrungen des Vaters (Kesselschlacht, Flucht aus einem russischen Gefangenenlager) mit seinem beruflichen Aufstieg in der DDR (im Bereich des Betriebsschutzes der Wismut) und der gewaltsamen Niederschlagung des Prager Frühlings in Zusammenhang” (Ette/Ostheimer/Pottbeckers 2012, S. 24f.).

Auch im Werk Lutz Seilers, so erläutert Ostheimer, seien die Themen Wismut, Strahlung und Familiengeschichte eng miteinander verknüpft. Beispielhaft hierfür ist der Band pech&blende(2000). Im titelgebenden Gedicht wächst ein Geigerzähler mit einem menschlichen Organ gar zu einem Mensch-Maschine-Hybrid zusammen” (Ette/Ostheimer/Pottbeckers 2012, S. 25)Seiler schreibt in seiner Erzählung „Der gute Sohn” einen dokumentarischen Impuls fort: „Am Beispiel einer Nachkriegskindheit zwischen Halden, die bis in die Gärten hineinragten, einem ‚Atomteich’ so nannten die Dörfler den Stausee in den Halden und einer ‚Kulturgruppe der Wismut’ legt Seiler den Lesern die Perspektive eines Ich-Erzählers nahe, der zum Chronisten eines dem Untergang geweihten Dorfes avanciert” (Ette/Ostheimer/Pottbeckers 2012, S. 26). Dieses Dorf lässt Seiler in dem 2010 erschienen Gedicht „Culmitzsch” wieder auferstehen. Vergleiche auch: Seiler 2004

Weitere potenzielle Untersuchungsgegenstände bilden in diesem Zusammenhang die Abschlussarbeiten des Literaturinstituts „Johannes R. Becher”, das zwischen 1955 und 1993 in Leipzig existierte und mit Arbeiterzirkeln, Verlagen und Betrieben eng vernetzt war. Am Institut studierten Absolventinnen und Absolventen, die entweder selbst in der Wismut tätig waren (Werner Bräunig, Horst Salomon, Erich Köhler, Martin Viertel, Jürgen Frühauf) oder in ihrem Schreiben an einschlägige Montandiskurse anknüpften (Angela Krauß, Gundula Sell). Das Becher-Institut wurde zwar in zwei Forschungsprojekten untersucht. Die Bezüge der mittlerweile digitalisierten theoretischen und literarischen Abschlussarbeiten zum Wismut-Kontext standen jedoch noch nicht im Fokus (vgl. Lehn/Macht/Stopka 2018Weirauch 2020).

(B) Die regionale Mundartdichtung bzw. die literarische Textproduktion jener der Wismut assozzierten Arbeiterzirkel

In ihrem Aufsatz Heimatbuch’.Welche literarischen Spuren hinterließ der Wismut-Bergbau in der Regionalkultur? fragt Elvira Werner, wie der Wismut-Kontext gerade in den 1950er und 1960er-Jahren Traditionen der erzgebirgischen Regional- und Bergmannskultur integrierte. Wie auch die theoretisch-geschichtliche Abschlussarbeit des Becher-Absolventen Martin Viertel zum Silberbergbau im Erzgebirge unterstreicht, gab es „in dieser Region seit Jahrhunderten” ein „Faszinosumdes Bergbaus im Sinne einer kulturellen Wahrnehmung, eines „Berufsethosder Bergleute wie auch einer gelebten bergmännischen Traditionspflege” (Ette/Ostheimer/Pottbeckers 2012, S. 60; vgl. Werner 1989). Daher bestand im kulturellen Bereich ein Selbstbewusstsein, das mit dem Auspruch „Ich bin Bergmann, wer ist mehr” umschrieben ist und Anknüpfungspunkte an die Programmatik des Bitterfelder Weges bot. Frei von Naziideologie sollte in der DDR ein Angebot von Wirkungsmöglichkeiten in Arbeitsgemeinschaften und Zirkeln verschiedener (volks-)künstlerischer Sparten für Wismut-Kumpel und die gesamte Bevölkerung” (Ette/Ostheimer/Pottbeckers 2012, S. 60) entstehen.

Elvira Werner nennt zahlreiche Beispiele für konkrete Ausprägungen der Volkskunst, die für zukünftige (literatur-)geschichtliche Forschungen als Untersuchungsgegenstand dienen können. Es ist davon auszugehen, dass in öffentlichen und privaten Archiven noch zahlreiche Dokumente aufzufinden sind. Aufgezählt werden von Werner die Arbeiten des Volkskünstlers und Mundartautors Werner Kempf und zahlreiche Anthologien, wie etwa Der Zukunft unserer Feder. Eine Sammlung von Arbeiten der Mitglieder des Literaturzirkels im Klubhaus Ernst Thälmann der IG Wismut Aue”, die von dem Becher-Absolventen Klaus Walther herausgegeben wurde (Vergleiche auch die Texte von Fritz Gerstenberger und Heinz Lauckner in: Blechschmidt 1960; Prager 2004). Viele Literaturzirkel existierten im Erzgebirge. Den Aufruf zur Bitterfelder Konferenz „‚Greif zur Feder, Kumpel, die sozialistische deutsche Nationalkultur braucht dich!’ hatte Bräunig, seit 1958 Mitglied des Zirkels Junger Autoren der Wismut, hier gemeinsam mit Jan Koplowitz verfasst (Ette/Ostheimer/Pottbeckers 2012, S. 63). Auch verweist Werner auf regionale Zeitschriften, welche die Szene um die Betriebe und Arbeiterzirkel ebenso begleiteten wie die Anthologien. Als Beispiel sei hier auf die Zeitschrift Sächsische Gebirgsheimat verwiesen. Auch Institutionen wie das Kulturhaus Erzhammer oder das Kulturhaus "Ernst Thälmann" spielten eine wichtige Rolle. Zentren der damaligen Arbeiterkultur waren Orte wie z.B. Annaberg-Buchholz, Aue, Auerbach, Antonshöhe, Brand-Erbisdorf, Eibenstock, Freiberg, Schlema, Schneeberg, Johanngeorgenstadt, Marienberg oder Rabenberg” (Ette/Ostheimer/Pottbeckers 2012, S. 64).

In Werners Ausführungen bleibt allerdings unbestimmt, welche Schnittmengen es zwischen Mundart- und Volkskunst sowie den Arbeiterzirkeln gab und wie diese sich in das ideologische Gesamtkonstrukt der Wismut einfügten. Wurde die so genannte Arbeiter- und Volkskultur in der Nachkriegszeit ideologisch vereinnahmt (vgl. Schaarschmidt 2010)? Wie fügten sich bergmännische Erinnerungs- und Identitätsdiskurse in die Programmatik des sozialistischen „Neuen Menschen” (vgl. Löffler 2013)? An welche Konfigurationen aus der NS-Zeit und davor wurde möglicherweise untergründig angeknüpft und wie wirkten diese über die Zäsur von 1989/1990 hinaus fort? Gattungstheoretisch wäre zu erörtern, wie literarisierte Formen (Lyrik, Agitationsgedicht) mit oralen Textformen und Liedern (Liedtexte, Mundartdichtung) verbunden sind. Auch stellt sich die Frage, wo es sich bei den Texten um autonome Literatur und wo um Gebrauchsliteratur oder Panegyrik handelt.

(C) Die Gattungsdiskussion um die Brigardetagebücher und deren Abgleich mit literarischen Entwürfen

Ein weiterer relevanter Forschungskontext wird in Sarah Hofmanns und Maria Ionovas Aufsatz „War das Arbeit? Kultur und Arbeit in Fühmanns Bergwerk-Projekt und den Wismut-Brigardetagebüchern” angeschnitten (Vergleiche auch: Beyer 2004; Steinhaußen 1977; Roesler 2000). „Der erste Abschnitt zeichnet am Beispiel des Roman-Fragments von Franz Fühmann ‚Im Berg. Bericht eines Scheiterns’ (entstanden 1974-1983) einen Entwicklungsprozess des schriftstellerischen Ich-Erzählers nach, infolge dessen dieser Protagonist seine durch die Romantik-Lektüre beeinflusste Vorstellung von der (märchenhaften) Welt der Bergleute unter Tage zugunsten eines sozialistisch-realistischen Verständnisses relativiert. Indem er die (Gleich-)Wertigkeit der eigenen literarischen Tätigkeit in der sozialistischen Gesellschaft dabei hinterfragt, gelangt er zu der Einsicht, dass Literatur, sprich Kopfarbeit der Handarbeit ebenbürtig ist. Dieser Standpunkt wird auch in den Brigardetagebüchern der Wismut vertreten, die gleichsam das ‚historischpraktische’ Gegengewicht zu Fühmanns Roman-Fragment bilden” (Ette/Ostheimer/Pottbeckers 2012, S. 96.). Im Aufsatz wird der Frage nachgegangen, inwiefern es sich bei den Tagebüchern selbst um eine dokumentarische oder bereits literarisierte Gattung handelt. Zur Gattung selbst heißt es: „Subjektive Erfahrungen einer Einzelperson stehen im Fall des Brigarden-Tagebuchs nicht im Mittelpunkt, vielmehr sollen daraus die Gedanken und der Konsens des Kollektivs hervorgehen. Da ein Brigardentagebuch darüber hinaus der Vergleichspunkt ist, an dem die kulturelle Leistung und Entwicklung des Kollektivs gemessen wird, auch im Wettbewerb mit anderen Brigarden, ist es auch noch eine Textsorte, die für die Öffentlichkeit zugänglich ist und sein muss” (Ette/Ostheimer/Pottbeckers 2012, S. 114). Entscheidend ist die Frage nach der Funktion der Brigardetagebücher. Dienten sie betriebsinternen dokumentarischen Zwecken oder waren sie Ausdruck eines Versuchs der Sinngebung und Identitätskonstruktion der Arbeiter? In der Erörterung ihrer Funktion liegt möglicherweise auch eine Parallele der Brigardetagebücher zu anderen Versuchen der Sinnfindung und Identitätsstiftung, die man u. a. in der Ästhetisierung der Bergarbeit durch Literatur, Fotografie, bildende Kunst und Filmproduktion um die Wismut ausmachen kann (vgl. Aurich/Jacobsen 2005; Düsedau 1999).

(D) Die Einbettung der Literatur um die Wismut in romantische und avantgardistische Montandiskurse

Einen überaus vielversprechenden Forschungskontext eröffnet die Untersuchung der Montandiskurse in der Literatur um die Wismut, die in Kathrin Lohses Monografie „Schattenwelten. Romantische Montan-Diskurse als Medien der Reflexion über Arbeit in der DDR(-Literatur). Hilbig Fühmann − Bräunig” erfolgte (vgl. Lohse 2010). Motivisch werden Bergbau und Bergarbeit hinsichtlich der für die Wismut-Thematik zentralen Gegensätze und Topoi (Oben und unten, Licht und Dunkelheit, Sexualisierung der Elemente, Projektionen einer Gegenwelt) analysiert und bis in die Anfänge der Industrialisierung zurückverfolgt. Diese Grundlagenarbeit kann für die Untersuchung nicht nur der Literatur um die Wismut herangezogen werden, sondern auch für die allgemeinerer Montandiskurse gerade auch hinsichtlich der Frage, welche Momente der Mythologisierung und Ästhetisierung dort wirken und welche Funktion ihnen zukommt. Bedenkt man die Programmatik bisheriger Forschung, etwa im Band Strahlungen”, so zeigt sich, dass der Versuch der Einbettung einer Literatur um die Wismut in den Kontext der Bergbauliteratur noch nicht geleistet wurde. Lohses Monografie bietet Anknüpfungspunkte zu romantischen, aber auch avantgardistisch-experimentellen Montandiskursen, die mit dem Konzept des „Neuen Menschen” in einem Zusammenhang stehen. Auch Querbezüge zu literarischen Texten aus der historischen Romantik könnten sinnvolle Erweiterungen der Forschungsperspektive darstellen (siehe weiter unten).

Forschungsperspektiven und Ausblick

Am 29. April 2021 wurde im Rahmen des interdisziplinären Forschungs-Forums der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig der Workshop „Literatur und Literaturwissenschaft um die Wismut” durchgeführt, in dem verbindende Momente der Forschung und weiterführende Zukunftsperspektiven erarbeitet wurden. Unter Berücksichtigung der bereits dargelegten Kontexte ergibt sich die Notwendigkeit einer nicht bloß literaturwissenschaftlichen, sondern intermedialen sowie auch interdisziplinären Perspektive. Die literarischen Phänomene um die Wismut sind Teil größerer kulturpolitischer und künstlerischer Entwicklungen (z.B. Bitterfelder Weg) und nehmen Impulse aus der Bildenden Kunst, der Fotografie und dem Film auf, wie sie diese zugleich beeinflussten. Sucht man nach einem verbindenden Konzept zwischen künstlerischen Gattungen, Literatur- und Kulturpolitik, so stößt man im Wismut-Kontext immer wieder auf jenes des sozialistischen „Neuen Menschen”. Bemerkenswert ist dabei, dass dieses Konzept die Integration unterschiedlicher, aus heutiger Sicht teilweise gegenläufiger kultureller, künstlerischer sowie politisch-ideologischer Entwicklungslinien erlaubte. Romantische Montandiskurse, seit Jahrhunderten bestehende Bergbautraditionen sowie Volks- und Mundartdichtung flossen in die Vorstellungen des „Neuen Menschen” ebenso ein, wie moderne, technisierte Montanarbeitswelten, sozialistische Arbeiterzirkel und avantgardistische Kunst- und Literaturproduktion. Wie dieser Nexus im Nachraum des Zweiten Weltkriegs und des Nationalsozialismus unter sozialistischen Bedingungen entstand, wie er sich im Verlauf der Geschichte der Wismut und der DDR entwickelte und wie er ggf. bis heute fortwirkt ‒ das gilt es nicht nur für das Feld der Literaturwissenschaft zu bestimmen; dies sind ebenso Fragestellungen für die Komparatistik, für Cultural Studies, Sprachwissenschaft, Wissenschaftsgeschichte sowie für die Politik- und Gesellschaftswissenschaften.

Im Spannungsfeld von Ideologie und literarischem Anspruch bleibt zudem (wie in der gesamten DDR-Literatur) zu klären, wo die Grenzen von kulturpolitischer Operationalisierung und künstlerischer Autonomie verlaufen. Hierbei gilt es, ohne einzelne Texte auf ihren kulturpolitischen oder geschichtlichen Gebrauchswert zu reduzieren, deren ästhetische wie auch literaturgeschichtliche Geltung zu evaluieren.

Im Nachraum des Workshops haben sich überdies weitere Zukunftsperspektiven und Fragestellungen ergeben, die an die oben bereits rekonstruierten Forschungskontexte anknüpfen:

• Wie haben kulturelle, erinnerungspolitische und wissenschaftliche Entwicklungen seit dem letzten großen Wismut-Forschungsprojekt (2011) den Blick auf den Gegenstand verändert?

• Dokumente von Zeitzeugen und fiktionale Erzeugnisse zur Wismut stehen sich oftmals gegenüber. Welchen Realismusanspruch verfolgen die literarischen Texte von Autoren und Arbeiterzirkeln aus der DDR-Zeit ‒ gerade vor dem Hintergrund des Sozialistischen Realismus und der ihm zu Grunde liegenden Abbildtheorie? Folgen die dokumentarischen Texte einem Abbildrealismus oder sind sie von zeitgebundenden Diskursen und Ästhetisierungsstrategien durchsetzt?

Wie urteilen die Zeitzeugen selbst über Literatur und Erinnerungsberichte zur Wismut (vgl. Bergmann 1991Bommhardt 2020; Ducke 2018Frühauf 2011; Kaden 2000; Kirchner 2010; Möckel 2012; Mustroph 1998, 2000Opitz 1996; Schramm 2011Viertel 1966; Teller 2010)? 

• Gibt es produktionstechnische Vorstufen von literarischen Texten um die Wismut (z. B. in den Beständen der Abschlussarbeiten des Becher-Instituts auf sachsen.digital oder an der UB Leipzig)?

• Viele Texte zur Wismut entstammen dem Kontext von Arbeiterzirkeln, aber auch dem der erzgebirgischen Volks- und Mundartkultur. Wo liegen die sprachlichen, kulturellen und politischen Bezüge beider Kontexte (Stichworte: Heimat,Erbe und Nationalliteratur”). Wo sind die betreffenden kulturellen Erzeugnisse archiviert? Gibt es Findbücher, Datenbanken?

Anlaufstellen: Wismut-Zentralarchiv, Sächsische Landesstelle für Museumswesen: Lorenz-Archiv, Stadt- und Kreisarchive ermitteln: Annaberg-Buchholz, Aue, Bad Schlema, Ebersbach-Neugersdorf, Johanngeorgenstadt, Schneeberg, Marienberg, Schwarzberg, Oberwiesenthal, Zwönitz.

• Wo in der Literatur um die Wismut bestehen Überschneidungen zu anderen künstlerischen Gattungen (Film, Bildende Kunst, Musik) und wo zu interdisziplinären Diskursen? (Fachsprachen, Metaphern, Fremdwörter um Strahlung, Uran und Radioakitvität) ?

Sprachwissenschaftliche Vorarbeiten zu russischen Lehnwörtern, Konrad Wolfs Sonnensucher”, Arbeiterlieder oder die Bilder aus dem Band Metamorphosen”. Vergleiche auch: Kaiser/Lindner/Saupe 2013

• Auf welche literarischen Vorbilder beziehen sich Literatur und Erinnerungsberichte um die Wismut? Werden hierbei ikonische Bilder und prägende Texte aufgegriffen? Welchen Bezug etwa gibt es zu den populären Montan-Diskursen der Romantik?

Hier wäre ein Vergleich mit Hebels Unverhofftes Wiedersehen, Hoffmanns Bergwerken zu Falun oder Texten von Tieck und Novalis aufschlussreich (vgl. Sent 2003).

• Hinsichtlich literatursoziologischer Fragestellungen und digitaler Analysemöglichkeiten: Wie waren die Netzwerkstrukturen der literarischen Institutionen beschaffen? (Schreibzirkel, Becher-Institut, kulturelle Zeitschriften, Vereine, Veranstaltungen).

Erwähnenswert ist hier das Projekt Forschungsplattform Literarisches Feld DDR: Autor*innen, Werke, Netzwerke Pilotprojekt: Die Student*innen des Insituts für Literatur "Johannes R. Becher" Leipzig sowie die Forschung zu Arbeiterzirkeln in der DDR.

Die kulturelle und literarische Produktion um die Wismut wirft Fragen nach der Lehrbarkeit literarischen Schreibens auf (Stichworte Schreibdidaktik und Bitterfelder Weg) sowie den Möglichkeiten Kultureller Bildung.

Produktive Fragestellungen können entwickelt werden in Auseinandersetzung mit den Publikationen Schreiben lernen im Sozialismus oder „Staatsauftrag: „Kultur für alle“. Ziele, Programme und Wirkungen kultureller Teilhabe und Kulturvermittlung in der DDR”. Vergleiche auch: Barck 2007.

• Eine genuin literaturwissenschaftliche Frage berührt die (literatur-)geschichtliche und ästhetische Geltung der Literatur um die Wismut. Wo verlaufen die Grenzen von Gebrauchs- und Hochliteratur? Lässt sich diese Grenzziehung überhaupt anwenden? War die DDR-Kulturpolitik auch hier Wunschdenken oder in Teilen verwirklicht?

→ Es müsste die Wismut-Literatur aus der DDR selbst sowie nach 1989/1990 im Kontext der DDR-Literatur und ihrer Konjunkturen (z.B. Aufbauphase, Ankunftsliteratur, Arbeit am Mythos, Wende-Literatur etc.) sowie der gesamtdeutschen Literaturgeschichtsschreibung betrachtet werden (vgl. Emmerich 2000).

• Was zeigen Kultur und Literatur um die Wismut hinsichtlich von Identität, kulturellen Selbstbildern und Erinnerungspolitik? Wie wirken diese Bilder über 1989/1990 hinaus? (z.B. "Volkstümlichkeit" etc.) (vgl. Schaarschmidt 2010).

• Welche kulturellen Kontexte und Konflikte sind in der Wismut-Literatur dokumentiert?

z. B. Mensch und Natur, Geschlechterrollen und Sexualität im Wismut-Kontext, kulturelle, politische und biografische Tabus, Wismut und Alterität im interkulturellen oder migrantischen Kontext (vgl. Schramm 2011).

• Wie ist das Verhältnis von Kultur und Arbeit im Wismut-Kontext zu bestimmen? Waren Kopf- und Handarbeit tatsächlich gleichwertig oder war dies ein ideologisches Desiderat?

• Wo wird in der Gegenwartsliteratur an die Thematiken der Literatur um die Wismut angeknüpft? Im engeren Sinn durch die Bearbeitung des Wismut-Themas selbst und im weiteren Sinn durch das Nachwirken der Literatur um die Wismut in den Diskursen zur Montanliteratur?

• Wie fügt sich die Wismut-Literatur und -Erinnerung in einen größeren, nicht mehr nur auf die DDR beschränkten Zusammenhang?

Komparatistisch können Texte der Bergbauliteratur und Montanromantik z. B. zum Ruhrgebiet (NRW) herangezogen werden oder aus anderen Bergbauregionen weltweit (z.B. im osteuropäischen Raum). Gibt es hier Parallelen in der Herangehensweise an das Thema? Womöglich kulturübergreifende Muster einer Ästhetisierung oder gar Mythologisierung von (Uran-)Bergbau und Fortschritt?

• Zuletzt: Welchen Nutzen kann die Einbeziehung computerlinguistischer Tools oder weiterer Methoden der Digital Humanities erbringen?

z. B. für Netzwerkanalysen oder Untersuchungen von sprachlichen Ähnlichkeiten zwischen Literaturen, z.B. Romantik, DDR-Literatur, Gegenwartsliteratur, volkstümlicher Literatur, wissenschaftlicher Literatur, komparatistische Textangebote. Wie können eine Vernetzung zwischen den beteiligten Disziplinen vorangetrieben und weitere archivarische Materialien miteinbezogen werden?

Autor: Sebastian Weirauch